Erzählungen

Zyklus über die vier Elemente

Erzählung Wasser – Kakao für zwei

Der Tag, an dem der Boden Risse bekam, begann wie jeder andere. Der Radiowecker schaltete sich pünktlich ein, die Nachrichten rauschten murmelnd vorüber, der Teekocher arbeitete zuverlässig.
Es begann, als Teresa mit dem Wagen losfuhr. Ganz plötzlich wusste sie nicht mehr zu sagen, ob sie sich noch auf der richtigen Fahrspur befand. Voller Panik riss sie am Steuer und hätte beinahe einen Kleinbus gerammt, der rechts neben ihr fuhr. Sie sagte sich, dass sie von heute an mehr schlafen müsse. Die Straße ebnete sich friedlich vor ihren Augen. Von da an fiel ihr auf der Fahrt ins Büro nichts Ungewöhnliches auf. Als sie im Bürohaus in den Fahrstuhl stieg, bewegte sich dieser, obwohl sie aufwärts gedrückt hatte, nach unten und schien viele Stockwerke unter die Erde zu fahren. Zusammengesunken kam sie auf dem Boden des Fahrstuhls hockend zu sich. Da verstand Teresa, dass der Boden Risse hatte und dass sie aufpassen musste, nicht darin zu versinken.


Der Computer begrüßte sie wie gewohnt, nur erschien ihr der Bildschirm blauer als sonst. Das Telefon klingelte, der erste Anrufer hatte eine belanglose Frage und alles war wie immer. Der Tag verlief ruhig und ohne Zwischenfälle. Erleichtert sah sie aus dem Fenster ihres Büros auf die Elbe und staunte wie jedes Mal über die feinen Grauschattierungen, sah bleigraues Wasser mit braunen Inseln darin, die dunklen Einbuchtungen auf dem vertrauten Gewässer, die wogende Bewegung.
Mittags schmeckte das Essen aus der Kantine nach Stroh, der Salat zäh und schlaff. Im Toilettenraum starrte sie in den Spiegel und sah eine vertraute, gleichwohl fremde Oberfläche, die nichts Seltsames ahnen ließ.


Abends hatte sie Mühe, ihr Auto in der Tiefgarage zu finden. Es wartete neben einem Lieferwagen auf sie, der die Sicht verstellt hatte. Auch hatte sich die Farbe, wie es schien, etwas verändert; aus dem kobaltblau war ein nachtblau geworden. „Die Welt verdunkelt sich“, ging ihr durch den Kopf und sie lachte stumm über den banalen Satz. An diesem Tag hatte sie Mühe, nach Hause zu finden. Eine unerwartete Umleitung brachte sie völlig aus dem Konzept, ließ sie, wie es ihr vorkam, endlose Schlaufen fahren. Um sich zu beruhigen, schaltete sie das Radio ein. Der gewählte Sender spielte einen Song von Billy Joel, den sie früher sehr gemocht hatte. Auf diese Weise brauchte sie eine Stunde für den Nachhauseweg statt einer halben. Sie eilte hastig die Treppen hinauf. Als sie ihre Wohnungstür aufschließen wollte, passte der Schlüssel nicht ins Schloss. Sie starrte ihn ungläubig an, ihr brach der Schweiß aus, dann bemerkte sie erleichtert, dass sie im falschen Stockwerk stand. Sie ging die eine Treppe herunter und stand vor ihrer Tür, die sie unverschlossen fand. Der Abend barg keine Geheimnisse, ein Anruf eines Freundes wurde mit vorgeschobenen Kopfschmerzen rasch beendet, die Nachrichten um halb elf unaufmerksam geschaut. Dann ging sie zu Bett. Sie schlief traumlos und tief.


Am nächsten Morgen verkündete das Radio nach den Nachrichten eine Unwetterwarnung und entließ sie mit Ratschlägen für den Tag ins Bad. Im Spiegel erkannte sich selbst kaum. Ihr Gesicht schien fremd und seltsam starr. Sie suchte nach vertrauten Linien, musterte die zusammengekniffenen Augen, den schmalen Mund, die ungekämmten Haare. Bin ich das? schien das Gesicht zu fragen. An diesem Morgen hatte sie keinen Appetit. Sie beschloss, ein paar Tage Urlaub zu nehmen und an die See zu fahren.
Der Tag im Büro verging unauffällig und still. Am Abend packte sie einen Koffer. Da so rasch nichts anderes mehr frei war, hatte sie ein ganzes Ferienhaus gemietet, für sechs Personen. Zum ersten Mal seit Tagen war ihre Stimmung heiter, fast übermütig. Auf der Fahrt zur Fähre sang sie laut im Auto und freute sich wie als Kind zuletzt auf die Ferien.


Als sie am Fähranleger ankam, registrierte sie nur langsam die Lautsprecheransage, die verkündete, dass auf Grund des heftigen Sturms kein Verkehr zwischen Dagebüll und Föhr/Amrum stattfinde. Ungläubig starrte sie auf die Anzeigetafeln, die nichts anzeigten. Ihre freudige Stimmung löste sich in nichts auf. Erstarrt blieb sie im Auto sitzen. So saß sie die ganze Nacht. Das Meer schlug dunkel grollend an die Küste, der Himmel war nachtschwarz; von einer erstickenden bedrückenden Schwärze mit wilden Wolkenfetzen. Am nächsten Morgen fuhr sie mit der ersten Fähre wie betäubt auf die Insel. Noch nie war ihr die Überfahrt so lang erschienen. Um sie herum saßen Familien mit Kindern, die geräuschvoll nach Kakao, Brötchen und Süßigkeiten verlangten. Ein kleiner sommersprossiger Junge starrte sie an, nahm bedächtig den Schnuller aus dem Mund, ließ den Blick nicht von ihr. Die Ansage, die Fähre würde in wenigen Minuten Wyk erreichen, unterbrach abrupt den Blickkontakt. Nun wurde es leerer und ruhiger auf der Fähre. Auch der kleine Junge verschwand auf den Vorderteil des Decks. Auf dem Weg dorthin drehte er sich noch einmal zu ihr um und schaute sie, wie ihr schien, bedeutungsvoll an.


An diesem frühen Morgen verließen nur wenige Gäste die Fähre in Wittdün. Mit dem Auto fuhr sie langsam über die Insel bis nach Nebel. Ohne große Mühe fand sie das Ferienhaus, das ihr auf Anhieb gefiel. Der Wohnraum war in milden Meeresfarben gestaltet, grünblau und weiß. Auf dem Tisch stand eine Vase aus blauvioletter Keramik mit gelben Blüten. Diese Sonnenblumen rührten ihr Herz an, als hätte ein vertrauter Mensch sie liebevoll begrüßt. Überrascht ertappte sie sich dabei, wie ihr Tränen in die Augen traten. Hastig sah sie sich die anderen Räume an. Drei Schlafzimmer. Für eine Großfamilie. Zwei Zimmer in blauweiß. Ein Schlafraum in bunten Farben. Kinderfarben. Sie entschied sich für ein blauweißes Zimmer mit Blick in den kleinen Garten. Das Badezimmer unerwartet prächtig in Perlmutt- und Muscheltönen, die Badewanne halbrund, riesig. Der Kühlschrank groß und leer.


Eine Stunde später fuhr sie zum Einkaufen, brachte Vorräte für mindestens sechs Personen mit zurück. Sie aß nichts, trank nur ein Mineralwasser. Danach sah sie sich in dem kleinen, kunstvoll angelegten Garten um, entdeckte einen kleinen Schuppen, in dem zwei Fahrräder standen. Entschlossen griff sie sich ein Fahrrad und fuhr damit zum Strand. Am Strand war es ruhig, fast menschenleer, nur wenige Personen liefen in weiter Entfernung ameisenklein in Richtung Wasser. Sie wusste, dass der Kniepsand an dieser Stelle fast einen Kilometer breit war. Sie lief diesen Kilometer barfuß, obwohl der Sand feucht und kalt war. Der schwergeregnete Sand fühlte sich beruhigend fest und stabil an. Nach einer Viertelstunde erreichte sie das Meer. Der vertraute herbe Geruch des Meeres nahm ihr fast den Atem. Sie schloss die Augen, nahm Geräusche und Gerüche gierig in sich auf. Bleiche Schaumkronen saßen wie fahle, dichte Gespinste auf den Wellen, brachen sich am Strand mit dem uralten, unermüdlichen Rhythmus, den sie so liebte. Sie hörte Stimmen und drehte sich um. Ein halb versunkenes Holzschiff lag am Strand in einiger Entfernung. Zwei Kinder liefen auf das Wrack zu, riefen lauthals, wer erster sei, wäre der Kapitän. „Du bist der Bootsjunge“ schrie der Größere. „Nein, ich bin der Admiral“, brüllte triumphierend der Jüngere. Der Zauber der Wellen war schlagartig verflogen. Schwermütig machte sie sich an den Rückweg, bis zu den Holzbohlen, bis zum Fahrrad. Zwei Stunden lang fuhr sie kreuz und quer über die Insel. Erschöpft kehrte sie in das Ferienhaus zurück, in dem sie sich auf eigentümliche Weise beschützt fühlte. Als sie das Haus betrat, vermeinte sie ein Kinderlachen zu hören. Teresa entdeckte eine Möwe, die kreischend den kleinen Garten verließ.


Sie kochte einen riesengroßen Topf voller Nudeln mit Hackfleischsoße, aß einen Bruchteil davon. Den Rest schüttete sie in den Müll. Danach versuchte sie zu schlafen. Erst als sie glaubte, der Schlaf werde nie kommen, nickte sie ein. Im Traum sah sie einen grell erleuchteten Raum, sich selbst dort liegend; sah grüngekleidete Menschen hin und her eilen, mit ihr sprechen, verstummen, die Lichter verlöschen. Abends um halb zwölf erwachte sie schweißgebadet. Sie lag wach bis in die frühen Morgenstunden.
Am diesem Tag frühstückte sie ausgiebig, briet Rühreier mit Schinken, machte Toast, kochte eine große Kanne Tee. Sie bemerkte plötzlich, dass ein zweiter Teller auf dem Tisch stand. Hatte sie den dorthin gestellt? Sie schob ihren Teller von sich.


An diesem Tag wanderte sie zum Leuchtturm von Wittdün und stieg alle Stufen in eiliger Hast hinauf. Oben rang sie mühsam nach Luft, keuchte und kämpfte mit einem leichten Schwindelgefühl. Von hinten sah sie eine kleine Gestalt in blauer Latzhose. Sie erkannte in ihm sofort den kleinen Jungen von der Fähre. Er drehte sich um, als habe er sie gespürt, sah sie und hielt ihren Blick fest. Ernst, vorsichtig, doch intensiv. Ein Ruf seines Vaters ließ ihn herumfahren, der Blick und der Junge waren verschwunden. Sie schaute über die Insel, auf die Dünen, zu den Halligen, hinüber zum Meer. Es kam ihr heute aufgeräumter, heller vor. Auf dem Weg nach unten wäre sie beinahe gestürzt.


Mittags suchte sie ein altvertrautes Restaurant auf und aß systematisch ihren bestellten Fisch, zerlegte ihn mit gründlicher Entschlossenheit, als gelte es etwas zu bekämpfen.
Sie schlenderte langsam durch den Ort zum Friedhof, las Inschriften der alten Grabsteine. Jeder der hier gestorbenen Menschen hatte einen Grabstein bekommen. Ein Ort ist geblieben, den man aufsuchen und wiederfinden kann. Dieser Gedanke sickerte wie ein beharrliches Rinnsal durch ihren Kopf.
Ihr wurde schwarz vor Augen, sie ließ sich ins Gras vor dem Grabstein sinken. Dort verharrte sie lange. So lange, bis es dämmerte und ihr auffiel, dass ihre Hose feucht war und ihre Beine gegen die gekrümmte Haltung rebellierten. Sie erhob sich und betrat die alte Kirche. Lange Töne hallten durch den Raum. An der Orgel übte der Organist. Sie lauschte der Melodie und langsam formten ihre Lippen den Text dazu: „Wie soll ich dich empfangen und wie begegn ich dir...“ Achtlos wollte sie etwas Kaltes aus ihrem Gesicht wischen und stellte erstaunt fest, dass ihr schon wieder Tränen in die Augen stiegen. Abrupt verließ sie die Kirche, suchte ihr Ferienhaus wie eine rettende, schützende Festung beinahe im Eilschritt auf.
An diesem Abend stellte sie mit Bedacht zwei Teller auf den Tisch. Einen großen und behutsam einen kleinen. Dazu ein Besteck und eine kleine Gabel. Ein Glas und einen bunten Becher. In dieser Nacht versank sie schwer wie ein ins Wasser geworfener Stein in den Schlaf. Im Traum sah sie einen kleinen Jungen, der ihr etwas zurief. Sie konnte ihn nicht verstehen. Bat ihn, das Gesagte zu wiederholen. Er rief laut, dennoch verstand sie ihn nicht. Er zeigte mit beiden Händen auf etwas, das sie nicht sehen konnte. Es war ein Eimer, ein bunter Kinderspielzeugeimer. Sie fuhr mit Herzklopfen aus dem Schlaf.


Den dritten Tag verbrachte sie zunächst im Bett liegend. Erst am Nachmittag stand sie auf, zog sich an, nahm das Fahrrad und fuhr durch den Ort. In einer kleinen Nebenstraße entdeckte sie eine Töpferei, die sie nicht kannte. Sie betrat den kleinen Laden mit der angrenzenden Werkstatt und erkannte in den ausgestellten Gegenständen sofort die Schöpferin der blauvioletten Vase wieder. Teekannen, Teebecher, Schalen, Krüge standen auf den Regalen. Entschlossen kaufte sie zwei blaue Teebecher und eine Teekanne mit einem eigensinnig nach oben geschwungenen Henkel. Abends kochte sie Kakao und füllte beide neuen Becher, stellte sie auf den Tisch und trank zuerst den einen, dann den anderen langsam aus.
Sie badete lange, las zwei Stunden und ging erst nach Mitternacht zu Bett.


Nachts fand sie sich im Traum auf dem Friedhof wieder. Ein kleiner Junge stand dort mit Eimer und Schaufel, mit grimmiger Entschlossenheit in der Erde grabend. „Was machst du da?“ rief sie ihm zu. „Ich grabe mir mein Grab“ , rief er zurück. „Warum?“, fragte sie. „Weil ich auch eins haben möchte“, erwiderte der Kleine trotzig, bedachte sie mit einem verächtlichen Blick und buddelte noch eifriger. Irgendetwas im Haus stürzte um, erschrocken fuhr sie aus dem Schlaf.


Den vierten Tag erledigte sie nach genauem Plan. Um 9 Uhr Frühstück, duschen, drei Minuten zum Anziehen, losfahren zum Strand. Am Strand angekommen, traf sie die Schönheit der Dünen, des flaschengrünen Strandgrases, des feinen, seidigen Sandes, wie ein Schlag. Immer wieder ließ sie Sand durch die Hände rinnen. Sie nahm zwei Muscheln in die Hände, legte sie wieder in den Sand und formte mit einem Stück Holz feine Linien um die Muscheln, zarte Kreise und Ovale.


Unvermittelt entdeckte sie neben sich eine Sandburg. Sie fragte sich irritiert, ob diese ganz plötzlich aus dem Sand gesprossen sei. Aus dem Sandhaufen tauchte ein  kleiner blonder Kopf empor, ein kleiner Körper in Latzhose folgte. Die Augen sahen sie an, sie kannte seinen Blick schon, leicht schräg gestellt, die Augenbrauen fein und lang geschwungen. Wissend sah er sie an. Er musterte sie mit einer langsamen, gründlichen Art, als wolle er in ihr Innerstes, Allerheiligstes vordringen – und dann lächelte er sanft und unergründlich. Was war es, das er ihr mitteilen wollte? Wollte er ihr überhaupt etwas mitteilen?
Hektisch, fast panisch sprang sie auf, hastete, so rasch es der Sand zuließ, über den Strand auf ihr wartendes Fahrrad zu, umklammerte den Lenker wie ein rettendes Tau und fuhr los. Dieses Mal jagte sie über die Insel, trat wütend in die Pedale, als wolle sie etwas zertreten, strampelte blindlings Radwege bis zur Erschöpfung, sank irgendwann schwer atmend nahe einer ihr unbekannten Stelle der Insel vom Fahrrad. Sie taumelte auf die Dünen zu, ging langsam einen Weg entlang zu einer Stelle nahe des Meeres. Sie begriff, dass es der Rand der Nordspitze der Insel sein müsse, an dem sie angekommen war. Mühsam wanderte sie bis zum Strand, hockte im Sand, saß lange Zeit regungslos. Sie roch das Meerwasser, spürte die unaufhörliche Bewegung der Wellen mit geschlossenen Augen.


Teresa öffnete die Augen, sah auf das Meer. Sie bemerkte, dass sich mit einem Mal eine Tür öffnete.
Ein kleines Gesicht erstand vor ihren Augen. Ein Gesicht, das sie nie gesehen hatte. Schwanger geworden am Ende des Studiums, ungeplant. Ein Versehen. Ihr Freund zeigte wenig Begeisterung für die bevorstehende Aufgabe. War das alleine zu schaffen? Alltagsfragen. Bei einer Routineuntersuchung die erste Auffälligkeit. “Frau Seiler, wir haben da etwas im Ultraschall. Dem sollten wir auf den Grund gehen. Die Nackenfaltenmessung ist auffällig.“ 13. Woche. Sieben Wochen warten, danach die Amniozentese. Ein Stich in den Bauch, ein Stich ins Innerste. Das Ergebnis kam bald, zuverlässig, unmissverständlich. Trisomie 21.


Nicht nur eine Diagnose, auch ein Urteil. „Das wollen Sie sich doch wohl nicht antun?“ Wer hatte das gefragt? Der Arzt? Die Krankenschwester? „Gönnen Sie sich drei Tage Bedenkzeit. Sie müssen nichts überstürzen.“ Die Bedenkzeit, kurze drei Tage, verstrich ungenutzt. Danach ging alles zügig, planvoll. Erste Kindsbewegungen ignorierte sie, fuhr zum angesetzten Termin ins Krankenhaus. Später wusste sie nicht mehr zu sagen, ob der blaue Plastikeimer, den sie meinte neben sich im OP gesehen zu haben, dort tatsächlich gestanden hatte oder nur ihrer fehlerhaften Erinnerung entsprungen war. Einen Tag später verließ sie das Krankenhaus ohne den Bauch. Ohne das Kind.


Die Beziehung zu ihrem Studienfreund kühlte sich ab, löste sich langsam und unauffällig auf. Zerfloss wie Wasser in einem Sandloch. Sie vermisste ihn wenig, vergrub, ja ertränkte sich förmlich in Arbeit. Leistete Erstaunliches, die Familie war stolz, sie selbst war es auch. Dem sehr guten Abschluss schloss sich die Karriere im Verlag fast wie von selbst an. Sie arbeitete zuverlässig, genau, ohne Fehler. Weggetaucht unter dem schmerzlichen kleinen Intermezzo. Geruht in einer kleinen Kammer für sieben Jahre. Hochgespült aus der Tiefe. War es der kleine Junge? Nein, es war bereits vorher da gewesen. Hatte eine Zahl in einem Zeitungsartikel sie so erschreckt? Es bestätigte sie doch nur, dass sich 95 % aller Frauen, bei deren ungeborenem Kind Trisomie 21 diagnostiziert wurde, für einen Schwangerschaftsabbruch entschieden.


Sie fragte sich, was es sei, das sie nicht aushalten könne. Die Antwort stieg aus ihr herauf. Ich halte es nicht aus, nichts zu wissen. Ich werde nie wissen, wie du ausgesehen hättest. Ich werde nie wissen, wie du gewesen wärst.


Endlich weinte sie. Weinte haltlos, aus einer Tiefe heraus, wie noch niemals in ihrem Leben. Weinte um sich, um das nie gekannte Kind, darum, dass es kein Grab, keinen Ort gab. Nichts.
Sie stand auf, nach langer Zeit, setzte sich näher ans Meer, starrte auf das Wasser, als sehe sie es zum ersten Mal, die Macht, die von ihm ausging, die gewaltige Harmonie der unaufhörlichen Bewegung. Sie erhob sich langsam aus dem Sand und fuhr zurück in ihr temporäres Heim.


Abends kochte sie eine Kanne Kakao, starrte auf die beiden Becher, rührte keinen der beiden an. Sie schlief bleiern, einen ruhelosen, erschöpften Schlaf. Den Traum, an den sie sich schemenhaft erinnerte, verbannte sie rasch aus ihrem Gedächtnis. Es blieb das Bild eines kleinen Jungen mit schräg stehenden Augen, dunklen Haaren, der ihren Mund hatte und Sommersprossen.


Am nächsten Morgen packte sie ihre Sachen, warf alle ungegessenen Lebensmittel in die Mülltonne. Nur die zwei Becher und die Teekanne packte sie sorgsam ein. Es war Zeit. Zeit, die Becher nebeneinander an einem anderen Ort aufzustellen. Vielleicht zu Hause im Küchenschrank. Ein warmer schöner Platz.